Aber erst die Zuspitzung der "sozialen Frage" erforderte von der Architektur nicht nur eine symbolische Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern eine praktische Veränderung dieser. Mit Marx gesprochen ging es jetzt nicht mehr um die Interpretation sondern um die Veränderung der Welt. Das bauhaus versuchte wohl am Nachdrücklichsten, dieser Aufgabe gerecht zu werden und erhob sie zu ihrem Programm. Diese neue gesellschaftliche Aufgabe führte zu einer neuartigen und überfordernden Komplexität, so daß die Forderung auftritt: "Es ist wichtiger, eine Methode des Denkens, als bloße Fertigkeiten zu lehren" (Gropius 1955, S.58). Die Architektur wird jetzt auch für die Architekten zu einem Problem. In dieser Zeit des neuen Bauens wurde ein Bewertungssystem von baulichen und städtebaulichen Komponenten erarbeitet und eingeführt, an dem sich die Architekten und Stadtplaner orientieren konnten: die offene Zeilenbebauung vor der geschlossen Blockbebauung, der freie Grundriss vor dem verschachtelten, das Langfenster vor dem stehenden Format, das Flachdach vor dem Satteldach, usw.

Komplexitätssteigerung durch Werteverlust

Doch spätestens in den 60er Jahre wurde genau dieses Bewertungssystem brüchig und verlor immer mehr an Glaubwürdigkeit. Die sich daran

anschließende Postmoderne konnte jedoch Nietzsches Prognose von der "Umwertung aller Werte" nicht durchführen - statt dessen haben wir es heute mit einem völligen Werteverlust zu tun. Denn ob eine geschlossen Blockrandbebauung oder ein offene Zeilenbebauung mehr Wert hat, ist in dieser Abstraktheit heute nicht mehr zu entscheiden. Auch die Architekten haben eine "neue Unübersichtlichkeit" zu beklagen. Die Fremdreferenzen haben nicht nur zugenommen, sondern ihre verbindlichen Bindungen an bauliche und städtebauliche Formen sind verloren gegangen. Sie sind von jeglichem apriorischen, d.h. dem Entwurfsprozess vorgehenden, Begründungszwang freigesetzt. Die Referenz, mit der Entscheidungen in den Fremdreferenzen eindeutig getroffen werde konnte, ist verloren gegangen und damit alle Entscheidungskriterien. Die freigesetzten Fremdreferenzen haben sich zu einer neuen Form gekoppelt: Dem Labyrinth.

Dem als Urform einer selbstreferentiellen Architektur gesellt sich also ein zweites Labyrinth hinzu: Das Labyrinth der Fremdreferenzen. Hierbei sollen die einzelnen Wände in Analogie zum klassischen Labyrinth die verschiedenen Fremdreferenzen darstellen, die den Entwerfer in seinem Entwurfsprozess leiten. Anders als das klassische Labyrinth aber, gibt es hier kein verborgenes Zentrum und es gibt nicht nur den einen Weg, sondern viele Wege hinaus.

Ein Labyrinth wie L. Parients Rauminstallation in Calais 1993. Eine Folge von Korridoren, Durchgängen und Oberlichtern formiert eine Raumstruktur nach strengen Kompositionsregeln - labyrinthisch in ihrer Regelmäßigkeit, aber ohne die Suche nach einem verborgenen Zentrum. Raum pur, der sich jeder funktionalen Rechtfertigung verweigert; ein Geflecht von Wegen, dessen Kohärenz sich nur über Bewegung entfaltet.

L. Parient, Rauminstallation, Calais 1993
[Abb.22]

 Die Fremdreferenzen geben keinen Hinweis mehr, wie man sich im Labyrinth sinnvoll bewegen soll, denn die eindeutige Kopplung von Zentrum, Ausgang und Verbindungsweg ist zerbrochen. Oder anders formuliert: Die Orientierung an der Dreieinigkeit von Zentrum, Ausgang und Weg ist aufgehoben und die Bewegung selbst als Bewegung gerät in das Blickfeld. Nur in der Bewegung selbst kann sich Sinn vermitteln, so wie der Landschaftsgarten sich nur in der Bewegung des Fußgängers oder Reiters sinnlich entfaltet oder der Strip von Las Vegas in der Bewegung des Autofahrers.