Die freigesetzten Fremdreferenzen

Im Anschluss an die Diskussion des Medium-Form-Verhältnisses in der Architektur und des daraus abgeleiteten Verständnisses des Entwurfsprozesses wurde der Blick wieder auf die Fremdreferenzen gerichtet. Denn sie sind es ja auch, die das Entwerfen zu einem hochkomplexen Prozess werden lassen. Nach der "destruction of the box", nach der Reflexivwerdung der Architektur gegenüber ihrer eigenen Selbstreferenz sind die Fremdreferenzen auch nun noch freigesetzt von jeglichem apriorischen Begründungszusammenhang. Die Erst- bzw. Letztbegründung von Architektur z.B. an der Funktion oder der Konstruktion ist nach diesem Reflexionsakt nicht mehr ernsthaft zu vollziehen. Doch wie orientiert sich der Entwerfer in diesem Labyrinth der Fremdreferenzen, wenn die Referenz für die Unterscheidungen in den Fremdreferenzen fehlt? Wie kann er unter solchen Umständen Sinn produzieren? 

Der Umgang mit den Fremdreferenzen ist also das Hauptproblem des Entwerfers. Wie soll er sich in dieser Vielzahl von sozialen, technischen, ökologischen und ökonomischen Einflüssen  orientieren? Dieses Problem ist das Ergebnis der funktionalen  Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft. Die Architektur als eine zweckgebundene Kunst scheint geradezu angewiesen auf die strukturelle Kopplung mit anderen Systemen. Dies bietet Systemimperativen anderer Systeme, v.a. des Wirtschaftssystems, 

geradezu ein Einfallstor in das Architektursystem und führt nicht selten zu De-form-ationen. Evolutionsgeschichtlich gesehen hat sich das Problem durch zwei Entwicklungen verschärft: Zum ersten durch die sprunghafte Zunahme von Fremdreferenzen durch die Zuspitzung der sozialen Frage  Ende des 19. Jh. und zum zweiten durch den Werteverlust der Fremdreferenzen nach dem Scheitern des Projekts der Moderne.

 

Komplexitätssteigerung durch funktionale Ausdifferenzierung

Auszüge aus: Vitruv, Zehn Bücher über ArchitekturDie Komplexität der Fremdreferenzen war schon von Anfang an ein Charakteristikum der Architektur. Schon Vitruv forderte im ersten überlieferten Architekturtraktat um 33 v.Chr. von dem Architekten, daß er "im schriftlichen Ausdruck gewandt sein, des Zeichenstiftes kundig, in der Geometrie ausgebildet sein, mancherlei geschichtliche Ereignisse kennen, fleißig Philosophen gehört haben, etwas von Musik verstehen, nicht unbewandert in der Heilkunde sein, juristische Entscheidungen kennen, Kenntnisse in der Sternenkunde und vom gesetzmäßigen Ablauf der Himmelserscheinungen besitzen" (Vitruv 23 v.Chr., S.25) müsse.

Auszüge aus: Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die BaukunstIn der Renaissance kündigt sich bei Alberti schließlich die Forderung nach Berücksichtigung gesellschaftlicher Verhältnisse und Verhältnismäßigkeiten an. In seinem 1485 erschienen Traktat "Zehn Bücher über die Baukunst" beschrieb er die Wand des Hauses als Artikulationsfläche auf der Individuum und Gesellschaft zusammenkommen. Der Portikus war dementsprechend als eine Zwischenzone von privat und öffentlich gedacht, der die Wechselbeziehung und Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft widerspiegelt: "Ich meine, daß die Portikus und das Vestibule nicht so sehr der Dienerschaft wegen, (...) sondern allen Bürgern zuliebe erfunden worden sei" (Alberti 1485, S.223). Auch die Frage nach der Angemessenheit der gestalterischen Mittel erklärte sich schon für Alberti aus dem sozialen Zusammenhang: "Ich billige jene nicht, welche den Häusern der Privatleute Zinnen und Mauerspitzen aufsetzen. Das gehört nämlich zu einer Burg, und hauptsächlich zu jener der
 Gewaltherrscher, hat aber mit friedlichen Bürgern und einem wohlgestellten Gemeinwesen nichts zu tun, da sie ja ein Zeichen gehegter Furcht oder begangenen Frevels sind" (Alberti 1485, S.489).